1. Einleitung
    • Vorgeschichte
    • Über diese Arbeit
    • Überwachungsgesellschaft
  2. Abstract
  3. Überwachung
    • Voir, pouvoir, savoir
    • Das Panopticon von Bentham
    • Überwachungsgesellschaft
  4. Die Beschleunigung der Fotografie
    • Starre Fotografie
    • Lebendige Fotografie
    • Sofortbildfotografie
    • Echtzeitfotografie
  5. Photosharing im digitalen Zeitalter
    • Fotos pro Sekunde
    • Snapchat
    • Instagram
    • Flickr
    • Flock
    • Splendor
    • Kritik an der Schnelllebigkeit der Bilder
  6. Fotografie von Menschen im öffentlichen Raum
    • Rechte und Gesetze
    • Das Urheberrecht
    • Das Nutzungsrecht
    • Das Recht am eigenen Bild
  7. Tragbare Kameras
    • Kartografie des Lebens
    • Wearcam
    • Memoto
    • GoPro
    • Google Glass
    • Kritik an Glass
    • Eine Frage des Kontextes
  8. Authentizität der Masse
    • Metadaten
    • Mehrere Perspektiven
  9. Erinnern und Vergessen
    • Sammeln, Speichern, Organisieren
    • Digitales Verfallsdatum
  10. Ausblick auf die praktische Arbeit
    • Fütterung der Überwachungsmaschinen
    • Aggregation
    • Modifikation
    • Generation
Inhaltsverzeichnis


Kapitel 8

Erinnern und Vergessen

Grenzbeamte in den USA nutzen Google immer häufiger auf der Suche nach Informationen über Einreisende. Bedenkt man zudem die Tatsache, dass viele Informationen im Internet nicht stimmen oder nicht mehr aktuell sind, dann haben wir das Problem plastisch vor uns. Viktor Mayer-Schönberger (2012), Professor im Fach Internet Governance and Regulation am Oxford Internet Institute, University of Oxford.

Sammeln, Speichern, Organisieren

Je mehr Texte, Fotos und Videos wir unterwegs aufzeichnen, desto öfter stoßen wir an die Grenzen der Speicherkapazitäten unserer Geräte. Auf ein Smartphone mit 128 Gigabyte Speicher – das entspricht der Kapazität der größten Festplatten von 2005 1 – passen etwa 50.000 Fotos mit einer Auflösung von 10 Megapixel. Das Wettrüsten schreitet im mobilen Bereich ebenso voran wie im Desktop-Computing, wo Wissenschafter der University of Southampton bereits fünfdimensionale Glasscheiben herstellen, um darauf bis zu 360 Terabyte an Daten zu speichern. 2

Wem unterwegs der Speicherplatz ausgeht, der kann seine Daten ins Internet auslagern. Bereitwillig geben wir unsere Dokumente und Bilder her, damit sie die Cloud-Dienste aufbewahren. Übers Internet auf Servern in der ganzen Welt verteilt, sind die Daten von überall aus zugänglich und synchronisiert auf allen Geräten verfügbar.

Um Lagerplatz brauchen wir uns also keine Sorgen zu machen. Aufheben wird immer billiger und war schon immer einfacher als zu organisieren und wegzuwerfen. So horte ich über 55.000 Fotos auf meiner Festplatte. Sie schlafen in Ordnern und warten auf ihren Datentod durch Festplattencrash. Das Betätigen des Auslösers wird zum Click-of-Death. Denn ein Foto machen und es nicht sofort teilen, bedeutet häufig, dass man es nie wieder anschauen wird. Bleibt jedes nicht geteilte Bild für immer verborgen? Warum heben wir dennoch alles auf? Kann es nicht auch eine Erleichterung sein, den digitalen Ballast loszuwerden? Wer digital nachhaltiger und bewusster leben will, muss Zeit investieren und Entscheidungen treffen.

Harvard-Professor Viktor Mayer-Schönberger sagte dazu in einem Interview:

Es ist, als sehe man seinen Kleiderschrank durch, um alle Kleidungsstücke wegzuwerfen, die man in den letzten drei Jahren nicht mehr getragen hat. Wenn man das macht, fällt einem auf, dass einem die weggeworfenen Stücke gar nicht fehlen. Das gilt auch für Informationen. Mayer-Schönberger, 2008; zit. n. Pluta, 2008

Im Endeffekt sei es hier jedem selbst überlassen, zu entscheiden, wie viele Daten er mit sich herumtragen möchte. Doch was ist mit jenen Daten, über die wir die Kontrolle verloren haben und die uns unter Umständen zum Verhängnis werden könnten? Ereignisse, die wir längst vergessen haben, aus einem anderen Lebensabschnitt, mit dem wir uns heute nicht mehr identifizieren? Es heißt, das Internet vergesse nichts. Medien, die in sozialen Netzwerken oder anderen Diensten hochgeladen werden, verlassen den sicheren Ort der eigenen Festplatte. Bildersuchmaschinen wie TinEye und Google helfen, Kopien von Bildern im Internet zu finden. Wer sich fragt, wo seine Bilder verstreut sind, kann dort ein Bild hochladen und erhält daraufhin eine Auflistung aller Webseiten, die diese Bilder und Kopien davon ebenfalls gespeichert haben.

Was passieren kann, wenn wir Bilder und andere Informationen aus den Händen geben, zeigte sich bereits eindrücklich in der Geschichte.

Mayer-Schönberger führt dazu ein Beispiel an:

Als die Niederlande in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Sozialgesetzgebung eingeführt haben, wurde ein Bevölkerungsregister eingerichtet, in dem alle möglichen Informationen über die Bürger erfasst wurden, auch die Religion. Als die Nationalsozialisten die Niederlande besetzten, nutzten sie dieses Register, um die jüdische niederländische Bevölkerung herauszufiltern. Das führte dazu, dass die Ermordungsquote unter den niederländischen Juden die höchste in Europa war. Mayer-Schönberger, 2008; zit. n. Pluta, 2008

Laut Mayer-Schönberger sei es auch für den Staat selbst besser, wenn es weniger Daten gibt – da man nie weiß, wie diese im Fall eines Angriffs auf die Demokratie missbraucht werden können.

Digitales Verfallsdatum

Das Verbraucherschutzministerium unter der Leitung von Ilse Aigner, stellte daher Anfang 2011 den Entwurf eines digitalen Verfallsdatums für Fotos vor. Die Software X-pire sorgt dafür, dass Fotos nach einer bestimmten Zeit unsichtbar gemacht werden. Dies wird durch eine Verschlüsselung des Bildes beim Hochladen erreicht. Ist das Verfallsdatum erreicht, wird der zugehörige Schlüssel vom Server gelöscht – das Bild kann nicht mehr angezeigt werden.

Das Problem des Systems liegt darin, dass Einrichtung und Wartung kompliziert und kostenintensiv sind. Bezahlen sollen dies die User. Außerdem entsteht durch den Einsatz eines Schlüsselservers wieder ein beliebtes Angriffsziel für Hacker. Gegen das Kopieren der Bilder schützt diese Methode auch nicht. Screenshots sind immer möglich. Man erhält mit dem System lediglich Kontrolle über das Original.

Dieses Problem hat auch die App Snapchat. Zwar kann ein Foto, das man darüber empfängt nur für wenige Sekunden betrachtet werden, der Nutzer hat aber jederzeit die Möglichkeit, einen Screenshot zu machen. Die Entwickler der App sind sich dessen bewusst. Als Lösung haben sie Benachrichtigungen integriert, die den Absender der Nachricht informieren, wenn ein Foto gekapert wurde. Dieser Verstoß gegen die Regeln kann dann zwischen den Teilnehmern geklärt werden. Das Prinzip der automatischen Löschung ist ein cleverer Schachzug, so reduziert es auch die Kosten, die sonst bei der Speicherung von Fotos auf Servern entstehen. Für den Fall, dass Nutzer ihre Nachrichten nicht öffnen, behält Snapchat die Fotos maximal 30 Tage auf den eigenen Servern.

Ein selbstzerstörerischer Mechanismus suggeriert Sicherheit und Vergessen. Nur der Empfänger soll die Fotos zu Gesicht bekommen. Das dachte sich auch die USA während des Kalten Krieges. War der Film einer Spionagesatellitenkamera voll, wurde er in einer Kapsel zurück zur Erde befördert und landete im Meer. Um zu verhindern, dass die Satellitenbilder in falsche Hände gerieten, war ein Sicherheitsmechanismus eingebaut. Dieser sorgte dafür, dass die Kapsel auf den Meeresboden sank, wenn sie nicht innerhalb von 48 Stunden abgeholt und zu Kodak nach Rochester, New York, geschickt wurde. 3

Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Bestrebungen, Fotos unsterblich werden zu lassen. Die Künstler-Gruppe Creative Time hat im Rahmen des Projekts »The Last Pictures« im November 2012 eine Kapsel mit 100 Fotos ins All geschickt. Zusammen mit Wissenschaftlern des MIT Boston wurden die Fotos in Metallplatten geätzt, die für Milliarden von Jahren bestehen bleiben sollen. Nach der 15-jährigen Mission des Kommunikations-Satelliten EchoStar XVI wird dieser zusammen mit den Fotos seine Reise im Weltraumfriedhof fortsetzen – bis in alle Ewigkeit.

Nicht ganz so radikal, aber mit einer klaren Ausrichtung auf Unvergänglichkeit, versucht die 2010 gegründete Plattform 1000 Memories Fotos vor dem Vergessen zu bewahren. Analoge Fotos, die in verstaubten Schuhkartons auf dem Dachboden lagern, sollen digitalisiert und auf der Plattform veröffentlicht werden. Damit entsteht eine Art Facebook der Vergangenheit. Jonathan Good, einer der Gründer, sagte in einem Ted Talk: »We make sure history remembers everyone«. 4

Noch lässt sich nicht genau abschätzen, was die Masse an Fotos, die wir tagtäglich produzieren, für Auswirkungen auf unsere Zukunft haben wird. In jedem Fall sollten wir den Umgang mit persönlichen Daten lernen und reflektieren. Dass selbst große Technologie-Befürworter ihre Meinung ändern, zeigt sich am Beispiel von Googles CEO Eric Schmidt. Auf der Techonomy Konferenz 2010 war er noch der Ansicht, dass die Herausforderungen neuer Technologie nur mit mehr Transparenz und ohne Anonymität gemeistert werden können. 5Drei Jahre später äußert er Bedenken hinsichtlich des Teilens von Fotos, vor allem unter Jugendlichen. »We have never had a generation with a full photographic, digital record of what they did«, stellt er fest und sagt: »Here are situations in life that it’s better that they don’t exist.« 6

  1. vgl. Wikipedia: Hard drive capacity over time. Stand: 25. Februar 2009.
  2. Anthony, Sebastian: Five-dimensional glass memory can store 360TB per disc, rugged enough to outlive the human race. In: ExtremeTech. Stand: 10. Juli 2013.
  3. Tarantola, Andrew: How the US Built Its Super-Secret Spy Satellite Program. In: Gizmodo. Stand: 23. April 2013.
  4. Good, Jonathan: Now our memories can live forever. In: TEDxSF. Stand: 9. Juni 2012.
  5. Fried, Ina: Google’s Schmidt: Society not ready for technology. In: CNET News. Stand: 4. August 2010.
  6. Furness, Hannah: Hay Festival 2013: Teenagers’ mistakes will stay with them forever, warns Google chief Eric Schmidt. In: The Telegraph. Stand: 25. Mai 2013.