Fotos pro Sekunde
George Eastmans Worte erzeugen ein glückliches Bild nostalgischer Ruhe und Besinnung. Der Rückzug in die eigene Bildwelt und die Reflexion der damit verbundenen Erinnerungen findet heute jedoch auf Geräten statt, die alles andere als Wärme versprühen. Digitale fotografische Notizbücher sind nicht mehr greifbar, können dafür umso einfacher mit anderen Menschen geteilt werden. Die Interaktion der Menschen mit den Fotos beschränkt sich meist auf asynchrone Kommunikation. Fotos sollen anderen gefallen. Dass man sich einen Moment Zeit genommen hat, um sich ein Foto anzusehen, kann man häufig nur durch ein gleichgültiges »Gefällt mir« oder Favorisieren eines Bildes äußern. Ein Kommentar auf ein altes Foto führt unmittelbar zu einem Wiederauftauchen der Erinnerung – hervorgerufen durch andere. Die zeitlich geordnete Vermischung der Erinnerungsströme unserer Freunde und Bekannten rückt das »Hier und Jetzt« nach oben und damit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Dass das Teilen und Verbreiten von Bildern in der westlichen Kultur Fuß gefasst hat, zeigt der explosive Anstieg von Fotos auf Photosharing-Plattformen und in sozialen Netzwerken eindrücklich. Die Risikokapitalgesellschaft KPCB präsentierte am 29. Mai 2013 ihre Internet-Trends, in denen geschätzt wird, dass in den vier bedeutendsten Netzwerken (Flickr, Snapchat, Instagram, Facebook) täglich über 500 Millionen Fotos geteilt werden (Meeker & Wu, 2013, S. 14). Die Nutzer des führenden Instant-Messaging-Dienstes WhatsApp verschicken laut Angaben des Gründers Jan Koum täglich 325 Millionen Fotos. Aus dem aktuellen Jahresbericht von Facebook geht hervor, dass seit dem Launch des Netzwerks im Jahr 2004 bis Ende 2012 über 240 Milliarden Fotos geteilt wurden. Jonathan Good, Gründer der Plattform 1000 Memories, kam 2011 zu dem Schluß, dass wir bereits mehr digitale Bilder gemacht haben, als die analoge Fotografie in den letzten 200 Jahren hervorbrachte.
Zwischen der ersten öffentlichen Fotoausstellung von Hippolyte Bayard am 24. Juni 1839 und den aktuellen Fotostreams im Internet liegen aber nicht nur Unmengen an Bildern und große technische Fortschritte, sondern auch ein damit einhergegangenes verändertes Kommunikationsverhalten. Es ist mittlerweile einfacher und schneller, eine Situation zu fotografieren und anderen Menschen zu zeigen, als diese zu beschreiben. Schnelle, unvollkommene Momentaufnahmen dienen zunehmend dem Beweis unserer Existenz.
Wolfgang Ullrich, Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe schreibt diesbezüglich:
»Das bedeutet […], dass sich die Fotografie von einem Medium der Dokumentation und Erinnerung zu einem Medium der Kommunikation verwandelt« und »dass der typische Smartphone-User beim Machen eines Fotos nur den Augenblick selbst im Sinn hat, dafür aber über sich selbst hinausblickt und schon an Bildempfänger denkt«. (vgl. Ullrich, 2013)
Snapchat
Die iPhone-App Snapchat untermauert diese Aussage. Sie bietet Nutzern ein Werkzeug, um mittels Fotos zu kommunizieren. Die aufgenommenen Fotos können allerdings nur für eine Dauer von maximal 10 Sekunden an Kontakte gesendet werden. Nach Öffnen einer solch kurzlebigen Nachricht offenbart sich deren Bildinhalt. Das bevorstehende Verschwinden kann danach nicht mehr aufgehalten werden. Die Webseite von Snapchat, beschreibt eindrücklich worum es geht:
The image might be a little grainy, and you may not look your best, but that’s the point. It’s about the moment, a connection between friends, and not just a pretty picture. The allure of fleeting messages reminds us about the beauty of friendship – we don’t need a reason to stay in touch.
Seit Snapchat Mitte 2012 durch Medienberichte Popularität erlangt hat, steigt die Zahl der damit geteilten Fotos exponentiell. Wurden Anfang 2012 noch 25 Fotos sekündlich geteilt, sind es mittlerweile über 2.300 Snaps pro Sekunde (150 Millionen pro Tag). Laut einem Bericht auf Forbes wurde die App bei der erfolgten Finanzierungsrunde durch Institutional Venture Partners mit 860 Millionen Dollar evaluiert. Gründer Evan Spiegel sieht die App außerdem als Gegenbewegung zur idealisierten Bilderwelt: »Founder Evan Spiegel explained that Snapchat is intended to counteract the trend of users being compelled to manage an idealized online identity of themselves, which he says has ›taken all of the fun out of communicating‹« (Spiegel; zit. n. Large, 2013).
Dass Photosharing-Dienste hoch gehandelt werden, zeigte sich 2012 beim Kauf von Instagram durch Facebook für eine Milliarde Dollar. Die App wurde 2010 von Kevin Systrom und Michel Krieger entwickelt und ermöglicht es Nutzern, Fotos aufzunehmen, mit vordefinierten Filtern zu bearbeiten und innerhalb von Instagram zu teilen. Zudem kann man anderen Nutzern folgen und bekommt so kontinuierlich die neuesten Fotos seiner Kontakte zu sehen. Sofern man die Sichtbarkeit seines Profils nicht explizit eingeschränkt, können die Fotos über Hashtags, Markierung von Personen und Ortsangaben von anderen Nutzern gefunden werden. Laut Angaben des Unternehmens hat Instagram monatlich 150 Millionen Nutzer und erhält 55 Millionen Fotos pro Tag.
Flickr
Vor Instagram und Co. war die Foto-Community Flickr lange Zeit der Inbegriff des Photosharing, die auch von professionellen Fotografen genutzt wurde. Seit der Übernahme durch Yahoo! im Jahr 2005 bietet die Plattform den Nutzern die Möglichkeit, Fotos hochzuladen, in Alben zu organisieren, zu verschlagworten und seit 2006 auch zu georeferenzieren. Ganz nach dem Motto: »Here are the buttons, you do the rest«, wie Jean Burgess (2006), Dozentin für Digital Media Studies an der Queensland University of Technology, die Plattform in Anlehnung an den Kodak-Slogan beschrieb. Im Gegensatz zu den bis dato disziplinierten Fotoaustellungen und Fotoreportagen bot Flickr unkuratierte Freiheit und schwache Strukturen, die es jedem erlaubten, gemeinsam mit anderen in die Welt der Fotografie einzutauchen und sich auszutauschen. Seit Mai 2013 bekommt jeder Nutzer zudem ein Terabyte Speicherplatz für seine Bilder – das entspricht rund 350.000 Fotos bei einer vollen Auflösung von 10 Megapixel. Flickr hatte im März 2013 etwa 87 Millionen Nutzer und zählt gegenwärtig über 9,5 Milliarden Fotos. 1
Flock
Dass wir immer mehr zu Touristen im eigenen Leben werden, zeigt sich bei gemeinsamen Unternehmungen mit Freunden. Jede noch so banale Aktivität wird aus mehreren Perspektiven gleichzeitig dokumentiert. Flock nimmt sich dessen an und bietet eine einfache Möglichkeit, Fotos mit bestimmten Personen zu teilen. Während man mit dem Smartphone fotografiert und von seinen Freunden fotografiert wird, behält die App Ort und Zeit im Blick und schlägt nach der Aktivität jedem Teilnehmer vor, die Fotos zu gemeinsamen Alben hinzuzufügen. Die individuellen Perspektiven fließen so zusammen und schaffen ein verallgemeinertes Bild des Erlebten.
Splendor
Die Vielzahl an Perspektiven war auch die Motivation hinter dem Projekt Splendor, das Ende 2010 im Kurs »Urbane Ebenen« an der FH Potsdam entwickelt wurde. Unter der Leitung von Till Nagel visualisierten Sebastian Schwinkendorf und Matthias Löwe öffentlich zugängliche Fotos auf einer Karte. Zusätzlich zur bekannten Geoposition gelang es ihnen, unter Berücksichtigung von Tags die Blickrichtung der Fotografen zu ermitteln. Daraus entstanden Visualisierungen, die hervorheben, von wo aus Sehenswürdigkeiten verschiedener Städte fotografiert werden.
Kritik an der Schnelllebigkeit der Bilder
[…] if photography was once for special occasions, today we have an astonishing ability to document every passing moment. That can, of course, be a lot of fun. If nothing else, the whole world now knows that you really do look different after a few drinks. But the ease of photography has also spawned an ambition to create a record of our lives that is roughly as long as our lives. If some primitives once supposedly feared that photography would steal their souls, today we fear that to fail to photograph is to lose something forever. But fighting time is a losing battle. The effort to record everything is vain and soon starts to feel empty. (Wu, 2013)
Aus dieser Kritik heraus haben Fotografen die »Slow Photography«-Bewegung gegründet. Ihre Mitglieder wollen weniger, dafür sorgfältiger fotografieren. Sie wollen sich den Drang abgewöhnen, jeden Augenblick festhalten zu müssen (vgl. Wu, 2013).
Larry Towell, Mitglied bei Magnum Photos und mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfotograf, kritisiert ebenfalls die Tendenz des Teilens zum Selbstzweck:
»People aren’t photographing for history any more. It’s for immediate gratification. If you’re photographing to share an image, you’re not photographing to keep it.« (Towell 2013; zit. n. Brown, 2013)
Wenn jeder nur noch Fotos macht, um sie anderen zu zeigen, aber keinen Wert drauf legt, sie auch selbst für die Nachwelt zu erhalten, dann, fürchtet Towell, werden unsere Fotos in der Schwemme der neuen und vergänglichen Technologien untergehen – ohne dass sie unsere Nachfahren je zu Gesicht bekommen. (vgl. Brown, 2013) ∞
- Die Schätzung der Anzahl der Flickr-Fotos basiert auf dem kürzlich hochgeladenen Foto vom 10. August 2013: Camposanto monumentale (inside) von Titi92. Dies hat die fortlaufende Bildnummer 9.478.294.690 ↩.