1. Einleitung
    • Vorgeschichte
    • Über diese Arbeit
    • Überwachungsgesellschaft
  2. Abstract
  3. Überwachung
    • Voir, pouvoir, savoir
    • Das Panopticon von Bentham
    • Überwachungsgesellschaft
  4. Die Beschleunigung der Fotografie
    • Starre Fotografie
    • Lebendige Fotografie
    • Sofortbildfotografie
    • Echtzeitfotografie
  5. Photosharing im digitalen Zeitalter
    • Fotos pro Sekunde
    • Snapchat
    • Instagram
    • Flickr
    • Flock
    • Splendor
    • Kritik an der Schnelllebigkeit der Bilder
  6. Fotografie von Menschen im öffentlichen Raum
    • Rechte und Gesetze
    • Das Urheberrecht
    • Das Nutzungsrecht
    • Das Recht am eigenen Bild
  7. Tragbare Kameras
    • Kartografie des Lebens
    • Wearcam
    • Memoto
    • GoPro
    • Google Glass
    • Kritik an Glass
    • Eine Frage des Kontextes
  8. Authentizität der Masse
    • Metadaten
    • Mehrere Perspektiven
  9. Erinnern und Vergessen
    • Sammeln, Speichern, Organisieren
    • Digitales Verfallsdatum
  10. Ausblick auf die praktische Arbeit
    • Fütterung der Überwachungsmaschinen
    • Aggregation
    • Modifikation
    • Generation
Inhaltsverzeichnis


Kapitel 2

Überwachung

Photography served to introduce the panoptican principle into daily life.Geoffrey Batchen, Professor für Geschichte und Fotografie an der Universität von New York City

Voir, pouvoir, savoir

Es scheint, als hätten wir uns an den Anblick von Überwachungskameras gewöhnt. Entpersonalisierte Kameras, die nicht von Menschen, sondern von Fassaden und Decken getragen werden und deren Bediener man nicht sehen kann. Diese oft unerreichbaren mechanische Augen der Architektur werden im öffentlichen Raum unter dem Vorwand der erhöhten Sicherheit für die Allgemeinheit installiert. Sie sehen das, was wir in unserer Gesellschaft lieber nicht sehen wollen: Geschwindigkeitsüberschreitungen, Diebstähle, Überfälle, Terroranschläge. Die Kameras sind Dokumentare des Geschehens, die Straftaten nachvollziehbar machen. Sie sind optische Erweiterungen der Bildschirm-Überwacher oder auch bloß Attrappen, die durch ihre sichtbare Präsenz für Ordnung sorgen sollen.

Abb. 9 Das niederländische Team FRONT404 (Thomas voor ’t Hekke & Bas van Oerle) dekorierte zum 110. Geburtstag von George Orwell – dem Autor von »1984« – Überwachungskameras in Utrecht. Orwell beschrieb bereits 1949 eine distopische Zukunftsgesellschaft, die permanent vom Großen Bruder überwacht wird. Die bunten Partyhüte sollen auf die unzähligen Kameras aufmerksam machen, denen wir tagtäglich begegnen.

Das Auge der Vorsehung oder auch das Allsehende Auge Gottes, wie es im Christentum eingesetzt wird, verdeutlicht, dass allgegenwärtige Überwachung weit über das Aufzeichnen von sichtbaren Ereignissen hinausgeht. Beim Beobachteten führt das Wissen, dass sein Handeln aufgezeichnet und (aus-)gewertet wird, unmittelbar zu einer Kontrolle der Gedanken und des Verhaltens. Die Kirche erhofft sich damit die Einhaltung der Zehn Gebote. So zeigt etwa das Tablaux Seven Daily Sins von Hieronymus Bosch die Sieben Todsünden, die das Auge Gottes umgeben. Die Inschrift rät dem Betrachter, achtsam zu sein, denn Gott sehe jederzeit zu. (Levin et al., 2002, S. 18) Die französische Sprache verdeutlicht auf eindrückliche Weise den Zusammenhang zwischen Sehen (voir), Wissen (savoir) und Macht (pouvoir) (Kravagna, 1997; zit. n. Levin et al., 2002, S. 18). Wer sieht, erlangt Informationen und kann damit Macht über die Überwachten ausüben. Auf diesem Prinzip beruht auch das Panopticon von Jeremy Bentham.Jeremy Bentham (1748–1832), englischer Jurist und Philosoph, war einer der wichtigsten Sozialreformer Englands im 19. Jahrhundert.

Das Panopticon von Bentham

Lange vor dem digitalen Zeitalter beschreibt Michel Foucault in seinem Werk Überwachen und Strafen (1976) eine Form der lückenlosen Überwachung, die als Antwort auf die Pest vorgesehen war. Kam es zu einer Epidemie, wurde eine sofortige Ausgangssperre für alle Bewohner verhängt. Man erstellte ein Verzeichnis mit Namen, Alter und Geschlecht und dokumentierte Todesfälle, Krankheiten und Beschwerden. Während Garden die Straßen kontrollierten und überwachten, gingen Beamte von Haus zu Haus, um die Daten zu erheben und sicherzustellen, dass niemand ohne das Wissen der Behörden in den Häusern Kranke behandelte. Ungehorsame Bürger mussten um ihr Leben fürchten, denn ihnen drohte bei Missachtung der Regeln entweder die Todesstrafe oder die Ansteckung mit der Pest. (vgl. Foucault 1976, S. 252 ff.)

Foucault wählte Benthams Panopticon, ein Modell-Gefängnis zur Disziplinierung, als Symbol für die Überwachungs- und Herrschaftsstrukturen der modernen Zivilgesellschaft.

Diese Form der Disziplinierung, das kontrollierte Wegsperren der Individuen und das Wissen der Autorität über alles und jeden, fand im Panopticon von Bentham seine architektonische Manifestierung. Es handelt sich um ein Gefängnis mit einem Wachturm im Zentrum und einen ihn umgebenden Ring von Zellen. Durch diesen einfachen und sparsamen geometrischen Aufbau sind die Insassen vom Turm aus stets gut sichtbar. Die Insassen selbst sehen weder was im Turm vor sich geht, noch was ihre Zellennachbarn treiben. 

 »Jeder Käfig ist ein Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar«vgl. Foucault, 1976, S. 256 ff.

»Jeder Käfig ist ein Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar« schreibt Foucault. Dabei ist es nahezu egal, ob sich jemand im Turm befindet oder nicht. Das Panopticon versetzt die Häftlinge in einen bewussten und andauernden Sichtbarkeitszustand: Die schlichte Möglichkeit, dass jemand dort stehen und ihre Handlungen beobachten könnte, führt ohne direkte Gewalteinwirkung bereits zur Disziplinierung der Gefangenen. (vgl. Foucault, 1976, S. 256 ff.)

Skizze von Jeremy Bentham (1791). Zu sehen sind Vorder-, Seiten- und Draufsicht des Panopticon.

Festinstallierte Kameras im öffentlichen Raum übertragen das panoptische Prinzip in die heutige Zeit, wie sich am Beispiel von Geschwindigkeitskontrollkameras im Straßenverkehr zeigt. Obwohl oder gerade weil man nie weiß, ob Blitzer überhaupt funktional sind oder nur Attrappen, kann einen bereits deren Präsenz dazu veranlassen, ordnungsgemäß zu fahren. Überwachungskameras suggerieren uns durch ihre rot blinkenden Lämpchen, dass sie betriebsbereit sind und am anderen Ende eine Autorität sitzen könnte, die eine Beobachtung durchführt.

Den totalitären Zugriff auf die Beobachtungen, wie ihn Betreiber von Überwachungskameras heutzutage auf die Bilder haben, lehnte Bentham ab. Stattdessen sah er für das Panopticon zur Verhinderung von Tyrannei eine Art demokratische Kontrolle vor. So sollte jeder Bürger der Außenwelt Zutritt zum Zentralturm haben, um selber die Überwachungsfunktion wahrnehmen zu können. Die Dunkelkammer zur Ausspähung von Individuen wird damit zum Glaskasten, in dem die Ausübung der Macht von der gesamten Gesellschaft durchschaut und kontrolliert werden kann. Von Einzelpersonen losgelöst, wird die Machtausübung so zu einer gesichtslosen, autonom funktionierenden Maschine. (vgl. Foucault, 1976, S. 266 ff.)

Überwachungsgesellschaft

In Anlehnung an das Panopticon bezeichnet Reg Whitaker (1999, S. 178) die Massengesellschaft als ein »Netzwerk aus Suchscheinwerfern«. Er schreibt:

Die neuen Informationstechnologien bieten die Möglichkeit einer realen, nicht nur einer vorgetäuschten Allwissenheit und ersetzen gleichzeitig den einen Aufseher durch eine Vielzahl von Inspektoren, die manchmal im Einvernehmen, gelegentlich aber auch in Konkurrenz zueinander agieren. (Whitaker, 1999, S. 178)

In Überwachungsmetropolen wie London wird jeder Bürger im Durchschnitt etwa 300 Mal von einer Kamera erfasst (vgl. Korte, Jelpke, ­Petermann, Wawzyniak, 2010, S. 1). Überwachungssysteme in Mailand erkennen mit spezieller Software störendes Verhalten und schlagen automatisch Alarm (vgl. Korte et al., 2010, S. 2). In Rotterdams Straßenbahnen wird unerwünschten Fahrgästen mittels Gesichtserkennung die Mitfahrt untersagt (vgl. Vlemmix, 2012).

Die einst als anonym und unpersönlich bezeichnete Stadt, in der »abweichendes Verhalten seine Nischen findet, in denen es sich entfalten kann, unbemerkt von Verwandten, Nachbarn oder Polizei« (Siebel, 1994, S. 8), wandelt sich so zum Gegenteil – nicht nur durch das wachsende Netz an staatlicher Überwachungstechnik, sondern auch durch die zunehmende Vernetzung der Bürger untereinander.

Denn die mit Technologie aufgewachsenen Digital Natives speisen das Netz mit Lebensdaten, die ein präzises Bild für alle anderen schaffen. Mit ihren Smartphones in der Tasche lassen sie andere jederzeit wissen, wo sie sind, was sie denken, tun und sehen. Im gleichen Zug erfahren sie dasselbe von ihren Freunden, dessen Leben an ihnen vorbeiscrollt. Die Beobachtung des Lebens wird immer mehr zum Leben selbst (vgl. Levin et al., 2002, S. 516) .

Eine Massenbeobachtung, wie sie Ende der 1930er Jahre in Großbritannien zu Forschungszwecken durchgeführt wurde, ist in viel größerem Ausmaß alltäglich geworden (vgl. Levin et al., 2002, S. 455). Was einst 500 Leute in Tagebüchern festhielten, verbreitet sich heute insbesondere in Form von Fotos über soziale Netzwerke. Nie zuvor war es so einfach in das Leben der anderen einzutauchen. ∞